Caroline Kemps de Escalante

Autorin und freie Lektorin                        

Kurzgeschichten (eine Kostprobe)


Flucht nach vorn


Der Schlüssel knirscht im Schloss und in meine Seele. Ein Tag in der Pathologie liegt hinter mir. Der Bewegungsapparat ist das Thema. Passend zu meinem Gefühl der Starre, in das mich dieses System hier in Ostdeutschland Tag aus Tag ein bringt.
Keiner hat die Absicht eine Mauer zu bauen. Kurze Zeit später stand der antifaschistische Schutzwall da und zerteilte Schicksale.
Mein Hirn wirft rote Schatten an seine Wände. Ich atme tief ein und ramme den Schlüssel tiefer in die Öffnung. Die Mauer in meiner Seele durchbricht es nicht, aber ich muss weitermachen. Mein Vater hat mir dieses Zimmer besorgt, damit ich meinen Traum verwirklichen kann. Ich will Arzt werden.
Ein kurzes Knacken, und die Tür gibt mit einem Rucken nach.
„Na, Herr Schnepfing, was macht die Kunst?“ Frau Tomalla steht in einem grau grün gemusterten Hauskittel im Flur und hält sich an ihrem Besen fest. Ihr Kniestrumpf ist auf den Knöchel gerutscht. Es lässt den Fuß wie den eines Elefanten aussehen. Ihre grünen Augen blitzen mich freundlich an.
Die Hand an der Türklinke erwidere ich ihr Lächeln. Sie gibt mir das Gefühl so etwas wie eine Familie hier in Ostberlin zu haben.
„Nächste Woche fangen die Klausuren an. Leider interessiert das den Prof nicht.“ Ich bin stehend k.o., doch was uns nicht umbringt, macht uns nur noch härter höre ich den Pathologen sagen. Ich habe offensichtlich ein Händchen für das Sezieren. Hinter seiner Strenge genieße ich sein Wohlwollen. Er ist ein hohes Tier bei der Stasi, das weiß in der Uni jeder, doch er ist der Beste in seinem Fach. Bissige Bemerkungen verkneife ich mir, wenn er seine sozialistischen Weisheiten einstreut.
Aus ihrer Kitteltasche fingert meine Wirtin einen Umschlag. „Ohne Fleiß kein Preis,“ lacht sie und schiebt noch ein „Lehrjahre sind keine Herrenjahre“ hinterher.
Ich winke ab. .Als ich den Umschlag sehe, erfrieren für einen Augenblick meine Gesichtszüge. Ich reiße mich am Riemen. „Danke,“ presse ich hervor und kann es nicht erwarten ihrem durchdringenden Blick zu entgehen. Sie ahnt etwas, dass spüre ich mit jeder Faser. Obwohl die Fasern auch ein Trugschluss sein können, da sie vom System willkürlich gesponnen werden und man quasi jedem aus Vorsicht misstraut.
Die Wärme ihrer Hand durchdringt meinen Hemdsärmel. Sofort schäme ich mich für meinen Gedanken.
„Mach mal Pause, Jungchen, vielleicht hat die Mutti Kekse geschickt.“ Mit den Worten drückt sie mir ein Paket in die Hand. Die Schrift ist eindeutig nicht von meiner Mutter. Schwer liegt es in meiner Hand. „Das sind wohl eher Kanonenkugeln“, rutscht es mir heraus und drücke es an mein galoppierendes Herz.
Frau Tomalla wendet ihre Aufmerksamkeit wieder ihrem Besen zu. „Dann guten Hunger und grüßen sie mir ihre Englein.“ Gespielt betroffen wirft sie ihre Hand vor den Mund. „Jahresendflügelpuppe heißt das ja jetzt“, raunt sie mir mit einem Zwinkern zu und schlurft davon.
In meinem Zimmer stehen die Erzgebirgsfiguren, die mir Trost spenden, wenn ich nachts nicht in den Schlaf finde. Plötzlich habe ich einen Kloß im Hals. Machen Sie es gut, denke ich. Mit einem Abschiedsgruß schließe ich die Tür.
Dumpf landet meine Ledertasche auf dem Teppichvorleger. Ich schiebe sie mit dem Fuß zur Seite. Mein Herz schlägt Kapriolen. Mein Atem versucht dagegen anzugehen. Erinnerungen schlängeln sich vor mein inneres Auge. Ich sehe meine Familie vor mir, wie wir vor dem Lametta geschmückten Weihnachtbaum aus einem zerflederten Heft Lieder schmettern, als gäbe es kein Morgen. Das waren Momente, in denen ich erfüllt war von Hoffnung und einer Geborgenheit, die ich nun plötzlich Angst habe für immer zu verlieren.
Gleichzeitig sehe ich unseren Freund Herrn Buch vor mir, der verbissen sein Feld beackerte und das Dröhnen der Vopo Autos ignorierte.
Es war Wahl, soweit man diese als solche bezeichnen kann. Gehirnwäsche beschreibt es näher. Fünf Männer stapften über den frisch gesäten Grund und zogen ihn weg. Ich hatte mich zusammen mit meinem kleinen Bruder Ansgar hinter dem Busch versteckt, als man den Gestank ihrer Auspuffe schon roch, bevor sie um die Ecke bogen. Herr Buch hatte uns zugerufen das Weite zu suchen. Den Anblick des gereckten Kinnes unseres Freundes, ein Hühne von einem Mann, als man ihn zur Wahl zerrte, werde ich nie vergessen. Später erzählte er uns, dass er mit dem Stift so stark aufdrückte, dass das Papier unter seinem SED Kreuz zerschliss. Mit viel Glück wäre der Wahlzettel ungültig. Doch der Schmerz in seinen Augen brannte sich in meine Seele ein. Nein, ich wollte nicht in der DDR bleiben.
In diesem Umschlag steckt meine Zukunft. In welche Richtung sich der Weg wendet ist noch unklar. Viele, die die Flucht nach vorn auf sich genommen haben, sind auf der Strecke geblieben. Erschossen am Mauerstreifen oder in einem der vielen Gefängnisse eingebunkert. Mein Bruder Piet hat es geschafft. Er ist drüben und hat mich zusammen mit meinem besten Freund Wolfgang an die Fluchthelferorganisation vermittelt. Ich vermisse die Alpen und die Sehnsucht, die uns mit dem Mauerbau brutal genommen wurde und seitdem in meiner Seele brodelt wie überkochende Milch. Der angebrannte Satz hat sich auf mein Leben gelegt und der Moment ist gekommen, dass ich ihn abkratze.
Mit dem Taschenmesser schlitze ich den Umschlag auf und hole das zusammengefaltete Papier heraus. Wie vereinbart steht dort der Treffpunkt, getarnt als Geburtstagseinladung.
Kurz überkommen mich Zweifel. Ich habe mich gut auf die kommenden Prüfungen vorbereitet. Die muss ich nun drangeben. Voller Wucht schlage ich das Messer in das Paket und ritze mir in den Daumen. Das Blut sickert in das braune Packpapier ein. „Mist“, stöhne ich und umwickle mir den Finger mit meinem Stofftaschentuch. Den Schmerz spüre ich nicht.
Beim Anblick des Inhalts gleitet mir das Paket aus den Händen Eine Pistole fällt mir auf die Füße.
Sind die wahnsinnig geworden? Was soll ich damit?
Einen Augenblick starre ich das Ding an wie ein lästiges Insekt. Abgesprochen war das nicht. Nicht auszudenken, wenn die Schweine mich mit der Pistole erwischen. Mit dem Taschentuch wische ich mir den kalten Schweiß von der Stirn. Damit will ich nichts zu tun haben.
Dann gebe ich mir einen Ruck und stehe auf. Mein Ausweis und die vermaledeite Waffe verschwinden in meiner Jackeninnentasche. Ich streiche mir über den Scheitel und schicke ein Stoßgebet in den Himmel. Stumm verabschiede ich mich von meiner Studentenbutze und schließe leise die Tür hinter mir.
„Was meinen Sie damit, ich muss noch warten?“
Mein Gegenüber knetet seine Hände und blickt zu Boden. Die Schaumkrone meines Bieres ist zusammen mit meiner Zuversicht eingefallen. Nackte Angst breitet sich in meinen Adern aus. Jede Minute zählt. Wenn ich morgen nicht in der Uni erscheine, wird es Alarm geben. Ich bin so kurz vor dem Ziel. Jede Verzögerung birgt die Gefahr, dass mich der Weg hinter Gitter bringt und meine Familie in Mitleidenschaft gezogen wird.
„Es gibt eine Planänderung, mehr kann ich Ihnen dazu nicht sagen.“
Mein Mund wird trocken. „Ich kann nicht mitten in der Nacht zurück in mein Zimmer.“
„Pssst“, herrscht mich der Kerl vor mir an und schaut mich aus trüben Schweinsäuglein an. Ich komme mir vor, wie in einem Gangsterfilm aus Amerika. Die Sorte, die wir nicht sehen dürfen. Die Waffe drückt mir gegen die Rippen und ich wechsle die Sitzposition.
Seine teigige Hand schiebt mir etwas rüber. „Legen Sie ihre Hand über meine.“
Perplex komme ich seiner Aufforderung nach. Er zieht die Hand weg und meine Handfläche fühlt einen Schlüssel.
Kameradschaftlich schlägt er mir auf die Schulter und grinst. „Rosenthaler Str. 3, 3. Stock links. Kein Licht und seien Sie leise.“
Ich grinse zurück doch hinter meiner Fassade tobt ein Sturm. Ich verstehe, dass es so aussehen soll, als ob sich zwei Kumpels treffen. Beherzt proste ich ihm zu und leere das Bier mit einem Zug. Er tut es mir nach. „Goldstaub, mein Freund“, ruft er über den Tisch und erhebt sich schwerfällig. „War schön dich mal wieder gesehen zu haben.“ Seine Stimme ist einen Tick zu laut, doch hoffe ich inbrünstig, dass man uns das Possenspiel abnimmt.
„Machs gut.“ Einen Rülpser kann ich gerade noch unterdrücken. Ich sehe ihm nach und lasse in einem Moment, indem ich mich unbeobachtet fühle, den Schlüssel für meinen Unterschlupf in meine Hosentasche gleiten.
Vorsichtig taste ich mich zum Bett. Mein Fluchtinstinkt zurück klopft an, doch es ist zu spät zum Umkehren.
Meine Blase drückt. Ich taste die Wände ab, in der Hoffnung eine Tür zu einem Badezimmer zu entdecken, irgendeine Möglichkeit mich zu erleichtern. Wahrscheinlich gibt es im Treppenhaus einen Gemeinschaftsabort. Der Herr hat mir eingetrichtert mich nicht zu rühren und so presse ich alles zusammen. Als sich meine Augen an die Dämmerung gewöhnt haben, erblicke ich eine Zimmerpflanze. Zu gerne würde ich die Pistole darin vergraben. Noch lieber würde ich sie weit von mir schleudern.
Im Kopf gehe ich die Muskeln des Bewegungsapparates durch. Das lenkt mich für einen Augenblick von meiner inneren Unruhe ab.  „Musculus Sternocleidomastoideus“, murmele ich vor mich hin und konzentriere mich auf das, was an diesen Halsmuskel anschließt. Nebenbei poliere ich die Waffe, damit nicht ein Fingerabdruck von mir jemals an mich erinnert. Nach einer gefühlten Ewigkeit bin ich im unteren Drittel des Körpers angekommen und mein Urogenitaltrakt reagiert augenblicklich. Ich springe auf und verrichte meine quälende Notdurft in der Zimmerpflanze. Das ist so degradierend, dass ich heulen möchte.
Zäh fließt die Zeit dahin. Ich nicke immer wieder ein und schrecke am frühen Morgen aus dem Sessel.
Einmal kurz, viermal lang, zweimal kurz klopft es an die Tür. Ist das die Stasi, die mich abholt?
Ich schleiche zum Fenster und spähe durch die Vorhänge. Zum Springen ist es zu hoch. Ein erneutes Klopfen holt mich zurück. Das ist das abgemachte Signal der Fluchthelferorganisation. Mit gestreckten Schultern schreite ich zur Tür und versuche meine Puddingknie zu ignorieren.
Vorsichtig öffne ich und stoße erleichtert die Luft aus, als ich ein bekanntes Gesicht erkenne. Der Mann vor mir legt einen Finger an seine Lippen und schlängelt sich durch den Türspalt. Langsam und ohne einen Laut schließt er die Tür hinter sich. Seine Worte sind nur ein Flüstern. Ich muss mich vorbeugen, damit ich ihn verstehe. Er gibt mir die Abfahrtszeit des Zuges vom Bahnhof Friedrichstrasse. „Sie heißen ab sofort Kurt Everartz, geboren am 16. März 1940 in Düsseldorf. Ziehen Sie die Vokale schön lang, da redet man platt.“ Er äfft den Dialekt nach, als er mit mir spricht und mir wird heiß. Ich kann nur sächsisch und habe keine Ahnung, wie ich in der nächsten Stunde eine andere Sprache lernen soll. Meinen Einwand wischt er mit einer energischen Handbewegung beiseite. „Nun machen Sie sich mal nicht ins Hemd. Schauen sie den Grenzern selbstbewusst ins Gesicht. Antworten Sie knapp auf die Fragen.“
Ich verfluche mich für diese Schnapsidee und meine Augen füllen sich mit Wasser. Er reicht mir den westdeutschen Pass und nimmt meinen entgegen. Beim Anblick der Pistole weicht er einen Schritt zurück und schüttelt den Kopf.
„Hier riechts, wie inner Kloake“, bemerkt der Kerl trocken und lotst mich aus dem Zimmer. „Hals und Beinbruch.“
So schnell kann ich gar nicht gucken, da ist er auch schon weg und lässt mich mit der neuen Identität auf der Straße stehen. Es sind kaum Menschen unterwegs. Ich mache mich mit gesenktem Kopf auf den Weg zum Bahnhof. In einem unbeobachteten Moment lasse ich die Pistole in einen Busch plumpsen. Meine Schritte werden leichter.
Der Blick des Grenzers durchdringt mich wie Röntgenstrahlen. Ich recke das Kinn und starre zurück. Wie zwei Boxer ringen wir darum, wer zuerst zu Boden geht. Ich bin kurz vor dem Ziel und sehe nicht ein mich niederstrecken zu lassen. Aktion Ungeziefer schießt es mir durch den Kopf. Eine Aktion, die die Zwangsausweisung von politisch unbequemen Menschen beschrieb. Der Typ sieht aus wie Puck, die Stubenfliege mit seiner schwarzen Hornbrille, die seine Augen um Lichtjahre zurückwerfen. Ich beiße mir auf die Lippen. Die Frage, wer hier das eigentliche Ungeziefer darstellt, ist für mich eindeutig geklärt.
„Ich bin Kurt Everaaartz aus Düsseldorf und auf dem Weg nach Berlin“, versuche ich den Vorgang der Kontrolle abzukürzen.
Der Grenzbeamte brummt und seine Augen fliegen wieder von mir zu dem Ausweis. „Lesen kann ich selbst.“
Ich zucke zusammen. Gut Kirschen ist mit denen nicht essen, das weiß ich von Erzählungen. Nickend verstumme ich und streichle meinem Erzgebirgsengel in der Tasche den Kopf.
„Gute Fahrt“. Der Ausweis klatscht vor mich auf den Tisch und mein „Danke“ geht in einem Krächzen unter. Die Augen des Mannes verengen sich zu Schlitzen. Dann reißt er die Tür zum Abteil auf und knallt sie hinter sich zu. Ich sinke in die dunklen Sitzpolster und versuche nicht laut Hurra zu brüllen. Noch sind wir nicht im Westen.
Draußen zieht der Tränenpalast an mir vorbei. Der Zug tuckert vorbei an der Spree. Der Mauerstreifen mit seinen Betonkreuzen ermahnen mich still zu sitzen. Im gefühlten Schneckentempo lässt der Zug den Osten hinter sich. Schloss Bellevue zieht an mir vorbei. Ich sehe es nur verschwommen. Jeden Moment erwarte ich Grenzpolizisten, die mich aus dem Wagen reißen oder sehe mich schweißgebadet in meinem Zimmer bei Frau Tomalla aufwachen, als wäre alles nur ein Traum.
Da ist es endlich: Das Schild Zoologischer Garten taucht auf. Mein Weg in die Freiheit. Ich torkele aus dem Abteil und remple einen älteren Herrn an.
„Pass uff, wo de hintrittst, du Fatzke“, schnauzt er mich an.
„In mein neues Leben“, erwidere ich und drängele mich an ihm vorbei auf den Bahnsteig, wo mir mein großer Bruder Piet und mein bester Freund Wolfgang mit offenen Armen entgegenlaufen.  Endlich schreie ich aus vollen Lungen: „Hurra.“ Piet und Wolfgang fangen mich auf, als ich wie ein Kartenhaus in mich zusammensacke.

 

Die Wege des Herrn
Pater Anselm lehnte sich in seinen Sitz zurück und genoss den Anblick des Ärmelkanals, auf dem die Schiffe darauf wirkten wie im Spielzeugland. Das Brummen der Triebwerke schläferte ihn ein. Seine Hand umschloss das Weinglas. Die Gedanken flossen langsam. Diese Momente der Stille schätzt er sehr.
„Ist das die Themse?“ Seine Sitznachbarin schob sich an ihm vorbei und versperrte ihm die Aussicht. Auf ihrem Shirt prangte eine aus Gold Pailletten bestickte Krone. Er drückte sich nach hinten, um dem ungebetenen Gast Platz zu machen. Die Aussicht gehörte schließlich nicht nur ihm. Geben ist seliger denn nehmen. Predigte er das nicht regelmäßig seinen Gemeinden? Zugegeben kostete es ihn nun Überwindung. „Gute Frau, wir überqueren längst den Ärmelkanal.“
Ihre wilden blonden Locken kitzelten ihm im Gesicht.
„Ach.“ Sie sank in ihren Sitz und sah den Pater an. Anselm seufzte. „Die Wege des Herrn sind unergründlich“, sagte er und kippte den Rotwein herunter. Die Maschine sackte in ein Luftloch. Die Frau schrie auf und klammerte sich an den Lehnen fest. Ihre eben noch so wachen Augen füllten sich mit Tränen. „Warum sagen Sie so etwas?“ Ihre Unterlippe zitterte.
Pater Anselm drehte sich zu der Frau um. „Ich wollte Sie nicht erschrecken. Ich wäre nur so gerne für mich.“
„Ich habe Flugangst“, stieß sie hervor. Der Flug wurde wieder ruhiger. Gleichmäßiges Brummen legte sich über die Kabine. Sie brauchte einige Anläufe, um ihre Handtasche zu öffnen und zog einen dunkelroten Tanga hervor, mit dem sie sich fahrig über das Gesicht fuhr. Sie schluckte und stopfte den Slip zurück in ihre Tasche, ohne einen Blick darauf zu werfen. Der Pater schmunzelte beim Anblick der Taschentuchpackung, die darunter lag.
„London war eine Kurzreise?“, versuchte er abzulenken.
„Ich hätte gerne für die Queen gearbeitet, doch ich war zu spät.“ Sie lächelte zaghaft. „Stattdessen darf ich zu einem Pfaffen nach St. Pauli. Aber wie sagten Sie so schön? Die Wege des Herrn… .“ Sie stockte. „Ich habe Sie hoffentlich nicht beleidigt?“
Pater Anselm warf den Kopf in den Nacken und lachte. „Wenn Sie Irina Busch sind, kreuzen sich unsere Wege.“
Ihr Gesicht nahm die Farbe des Rotweines an, und sie rückte von ihm ab. „Woher….?“
„Das ist der Name meiner neuen Haushälterin im Pfarrhaus.“ Er streckte der verdutzen Frau die Hand entgegen und stellte sich vor. „Herzlich willkommen.“




 

Für immer die Deine
Mit einem lauten Klatschen landete das mitgebrachte Sodukuheft an der Wand und flatterte zu Boden. Ein Weinblatt löste sich aus den Seiten und blieb vor Hannes´s Fuß liegen. Mit einem Blitzen in den Augen starrte er es an. In seiner Seele tobte ein Sturm, der seine Seele wegzuwehen drohte.  Er krallte sich mit den Fingernägeln in den Arm.
„Ausgerechnet ein Winzer. Das ist nicht dein Ernst.“
Linda sah ihn mitleidig an, was ihn nur noch wütender machte. 

„Jaques und ich sind füreinander bestimmt. Du hast mir doch geraten, einen Brief in das Astloch zu legen?“
Er drehte sich weg und trat auf das Weinblatt. „Und unser Schwur an der Bräutigamseiche? Für immer die Deine?“
Linda setzte den Koffer ab und drehte sich zu ihm um. „Ich bin immer für dich da, das weißt du. Aber lass mir mein Leben.“
Sie setzte einen Schritt auf ihn zu und nahm ihn in den Arm. „Hiltrud wird sich um dich kümmern. Zur Hochzeit holen wir dich. Dann, schauen wir, ob wir in der Bräutigamseiche einen Brief für dich finden.“ Aufmunternd lächelte sie ihm zu und trat zurück. An der Tür winkte sie ein letztes Mal, bevor diese mit einem leisen Klicken ins Schloss fiel.
Hannes sank auf den Stuhl und ließ seinen Tränen freien Lauf. Von wegen Weinen wäre eine Heilung. Die Wunde in seinem Herzen kurierte es nicht. Im Gegenteil, der Druck nahm zu. Wimmernd legte er seinen Kopf auf die Unterarme und hoffte, dass der Schlaf ihn hier am Tisch überrollte.  Mehr noch, wenn der Tod ihn holen würde, er ginge ohne Widerstand mit.
Eine sanfte Stimme riss ihn aus einem Traum. „Herr Hannes, wachen Sie auf. Es ist Zeit fürs Abendbrot und Medikamente.“
Mühsam richtete er sich im Stuhl auf und Hiltrud stellte ein Tablett vor ihm ab. Er versank in ihren großen blauen Augen, die von der Farbe ihres Kittels noch mehr zum Leuchten gebracht wurden. „Ich habe keinen Hunger.“
„Haben Sie wieder von der Bräutigamseiche geträumt?“
„Linda heiratet einen Winzer“, brummte er als Antwort.
Hiltrud klopfte Hannes auf die Schulter. „Das freut mich. Haben Sie ihn schon kennengelernt?“
„Das ist bestimmt ein Säufer. Ich konnte doch nicht ahnen, dass Linda den Brief in dem Astloch ernst meinte. Sie ist meine Kleine. Das hat sie mir geschworen.“
Hiltrud nickte. „Da war sie sieben, richtig? Jetzt ist sie fünfunddreißig und strahlt. Ist es nicht das Schönste für einen Vater?“



 


Nett sein für Anfänger

In Gedanken versunken laufe ich die Atlantik Chaussee entlang. An einem Schaufenster bleibe ich wie angewurzelt stehen. Habetrot -Vintage steht in geschwungenen Lettern über der Eingangstür. Ein Spinnrad rundet den Namen ab.

Der armen Schaufensterpuppe hat man den Garaus gemacht. Ohne Kopf, Arme und Beine ist sie auf einer Stange aufgespießt und spiegelt mein Inneres. Kopflos und leer. Diese Bluse mit seinem asymmetrischen Schnitt, in dieser traumhaften himmelblauen Farbe könnte mir helfen. Jedenfalls für den Augenblick.

 

Ich betrete den Laden und mir steigt der besondere Geruch von Edel Second Hand in die Nase. Zielstrebig steuere ich auf das Objekt der Begierde zu und strecke feierlich die Hand aus.

„Nichts anfassen“, tönt es und ich zucke unter der näselnden Stimme zusammen. Ich lasse die Hand sinken und drehe mich um. Eine ältere Verkäuferin in einem enganliegenden schwarzen Kleid und kunstvoll aufgestecktem angegrautem Haar, starrt mich über den Brillenrand an. Der rotgeschminkte Mund gibt dem dunklen Outfit eine besondere Note. Ich ducke mich innerlich unter ihrem prüfenden Blick und nuschle eine Entschuldigung. „Die Bluse hat es mir angetan.“

Ihrer strengen Miene nach zu urteilen, tut sie mir gleich etwas an. „Die ist eher was für Zierliche.“

Ich öffne den Mund, um untertänigst nach meiner Größe zu fragen, da fällt sie mir ins Wort. „Wir haben hier nichts aus der Retorte. Alles Einzelstücke.“

Sie erhebt sich von ihrem Bürostuhl. Jeden Schritt, den sie sich auf mich zu bewegt, lässt mich gefühlt noch mehr in die Breite gehen.

„Sie können es gerne anprobieren.“ Gönnerhaft hebt sie eine Augenbraue. Ich verzichte kleinlaut.

Aus der Umkleidekabine meldet sich schüchtern eine Kundin. „Die Hose passt nicht. Ich komme nicht raus.“

Gelangweilt stolziert die Dame auf ihren Platz.

„Ja, bleiben Sie lieber, wo Sie sind. Da hat ja keiner was von.“

Der imaginäre Pudding verschwindet augenblicklich von meinen Hüften.

„Schon mal über ´ne Fortbildung „Nett sein für Anfänger“ nachgedacht? Gut fürs Geschäft.“

Aus der Umkleidekabine dringt ein Kichern.

Perplex öffnet die Frau den rot geschminkten Mund zu einer Erwiderung. Lippenstift klebt an ihren Zähnen.

Beschwingt verlasse ich die ungastliche Stätte ohne eine Antwort abzuwarten. Ich bin fest entschlossen, heute Abend die Nähmaschine zu bemühen. Dann spinne ich mir mein Glück eben selber.